Auf den ersten Blick sieht die Entwicklung positiv aus: Nach Weltbankangaben haben internationale Geber ihre Hilfe für Gesundheit zwischen 1999 und 2003 von 6,5 Mrd. US-Dollar auf mehr als zehn Mrd. Dollar erhöht. In den letzten beiden Jahren stellten ausländische Geber außerdem rund 3,4 Mrd. Dollar zusätzlich für HIV/Aids-Programme im Süden bereit, wie UNAIDS berichtet. Damit könnte der Gesamtbetrag im Vorjahr etwa 13 Mrd. Dollar erreicht haben. Vergleicht man diese Summe aber mit den zusätzlich nötigen externen Mitteln, um die Millenniums-Entwicklungsziele (MDGs) im Gesundheitsbereich zu erreichen – 25 bis 70 Mrd. Dollar jährlich, schätzt eine Ende Mai veröffentlichte Weltbankstudie („Health Financing Revisited“) – scheint klar: Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung im Süden wird auf absehbare Zeit prekär bleiben.
Wäre Gerechtigkeit ein Grundsatz der internationalen Politik, müsste das nicht so sein. Denn die reichen Länder bräuchten nur ein Prozent ihrer Gesundheitsausgaben von 2002 (ca. 2.850 Mrd. Dollar) umzuschichten, um einen beträchtlichen Teil oder bestenfalls sogar die gesamte Finanzierungslücke zu schließen. Realistischerweise werden Regierungen und Geber aber weiterhin mit dem Problem konfrontiert sein, die vorhandenen Mittel möglichst effektiv und effizient einsetzen zu müssen.
Was sie bisher nach den Erkenntnissen der zitierten Weltbankstudie nicht unbedingt taten. Mangelnde Verteilungsgerechtigkeit beschränkt sich nicht auf die internationale Ebene, sondern existiert gleichermaßen auf der nationalen: Öffentliche Gesundheitsausgaben im Süden kommen in der Regel disproportional den relativ Bessergestellten zugute und nicht den Ärmsten, und sie fließen auch nicht in die wichtigsten Maßnahmen. Unterversorgung bedeutet zudem, dass gerade in den ärmsten Ländern der Anteil der privaten Mittel an den gesamten Gesundheitsausgaben mit durchschnittlich 60% am höchsten ist, was einer weiteren Benachteiligung der ärmeren Bevölkerung entspricht.
Welchen Effekt die bisherige internationale Hilfe für Gesundheit hatte, versuchten die AutorInnen der Weltbankstudie ebenfalls zu beantworten. In Ländern mittleren Einkommens ist ihr Anteil an den Gesamtausgaben mit 1% zu gering für eine solche Analyse. Signifikant ist ihr Anteil jedoch in Afrika südlich der Sahara: 20% auf Länderbasis, in zwölf Ländern sind es sogar mehr als 30%.
Immerhin gelang es den AutorInnen, aus der Datenfülle einen direkt positiven Effekt der Hilfe auf die Kindersterblichkeit und einen indirekten auf die Müttersterblichkeit herauszufiltern. Ansonsten ist die Bilanz nicht berauschend. Als Gründe wurden etwa die Unberechenbarkeit, die starken Schwankungen und die Kurzfristigkeit der Mittelvergabe sowie die fehlende Verantwortung der Geber für die Programmergebnisse identifiziert. Weitere Einbußen an Effektivität ergeben sich durch Abzweigungen (in manchen Fällen wurden bis zu 90% der Mittel nicht widmungsgemäß eingesetzt), „Fungibilität“ (Hilfe führt nicht zu einer Erhöhung der Ausgaben, sondern nur zu einer Umschichtung im Budget) und Koordinationsprobleme beim Mitteleinsatz.
Ob die Steigerung der Hilfe für Gesundheit, die in den letzten Jahren zu beobachten ist, zu mehr Effektivität beitragen kann, ist fraglich. Das Koordinationsproblem ist zweifellos noch größer geworden, da die Zahl der Akteure ebenso rasch zugenommen hat wie jene der krankheitsspezifischen Programme, die nicht in die offizielle Gesundheitspolitik integriert sind. Zunehmend wird auch in Frage gestellt, ob der Gesundheitssektor die zusätzlichen Mittel überhaupt sinnvoll einsetzen kann; eine Sorge, die durch die Abwerbung von Gesundheitspersonal durch zahlungskräftige NGOs noch verstärkt wird.
Ganz offensichtlich beziehen sich diese Bedenken vor allem auf Maßnahmen und Programme zur Prävention und Bekämpfung von HIV/Aids, worauf der Großteil der zusätzlichen externen Mittel in Afrika südlich der Sahara entfällt. Gerade dieser Bereich leidet aber außerdem an einem erheblichen Mangel an gesicherten Daten, was sowohl Entscheidungen über den optimalen Mitteleinsatz wie auch die Bewertung der Effektivität der finanzierten Maßnahmen äußerst erschwert.
An erster Stelle steht dabei die Frage nach dem Ausmaß des Problems. Mittlerweile räumt UNAIDS selbst ein, die HIV-Prävalenz (den Anteil der mutmaßlich HIV-positiven Bevölkerung) in Afrika südlich der Sahara jahrelang systematisch überschätzt zu haben. Grund dafür war vor allem die Datenbasis der epidemiologischen Modelle, die (oft falsch-positiven) HIV-Tests 19-24-jähriger Frauen zumeist in städtischen Schwangerschaftskliniken. Mittlerweile liegen für viele Länder Prävalenzdaten auf Basis von Erhebungen vor, die auf etwas zuverlässigeren Testverfahren beruhen und eher repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind.
Sie ergeben in der Regel weit geringere nationale Werte, zeigen eine stagnierende Prävalenz insgesamt und einen Rückgang in Ostafrika, während sich in Westafrika HIV-Infektionen im Allgemeinen offenbar nicht epidemisch ausgebreitet haben. Am stärksten betroffen scheint das südliche Afrika zu sein, auch wenn die Prävalenz (15-49-Jährige) auf Basis der neueren Erhebungen in Botswana nicht 37,5%, sondern 25,3% und in Südafrika nicht 21,2%, sondern 16,2% betragen könnte.
Relativ „gute“ Nachrichten. Sind jedoch die neuen Daten zuverlässiger, werden damit auch Annahmen über die Effektivität von Präventionskampagnen in Frage gestellt. Etwa in Ruanda. Nach früheren UNAIDS-Schätzmethoden sank die HIV-Prävalenz unter Erwachsenen (15-49 Jahre) von 11,2% (2000) auf 5,1% (2004), für 2005 werden nun auf Basis repräsentativer Tests 3,1% angegeben. Aber wer kann nun sagen, welche Prävalenz sich etwa 1998 auf Basis der Testverfahren von 2005 ergeben hätte? Entsprechend skeptisch äußerten sich ruandische Gesundheitsbeamte im April gegenüber der Washington Post: Genausogut könnte es sich bloß um scheinbare Trends handeln, die auf fehlerhaften Studien beruhen. Dann hätte man sich aber auch den Aufwand für die Präventionskampagnen sparen können.
Auch die Effektivität der laufenden Ausweitung der Therapien mit antiretroviralen Medikamenten (ARVs) lässt sich mangels sicherer Daten nicht belegen. Laut jüngstem UNAIDS-Bericht von Ende Mai nahmen Ende 2003 erst 400.000 Menschen im Süden ARV-Therapien in Anspruch, Ende 2005 jedoch bereits mehr als 1,3 Mio. Damit, so UNAIDS, wären allein 2005 250.000 bis 350.000 Todesfälle vermieden worden. Allein die Bandbreite der Schätzung verrät ihr Zustandekommen: Sie beschreibt die Differenz zwischen „erwarteten“ Todesfällen ohne ARV-Behandlung und „erwarteten“ Todesfällen mit ARV-Behandlungen, alles auf Basis von Modellrechnungen. Das ist derzeit unvermeidlich, denn in Afrika südlich der Sahara gibt es außer in Südafrika kaum vollständige Sterberegister, die einen Vergleich der Sterberaten und Todesursachen über die Zeit ermöglichen würden.
Selbst unter der Annahme, dass ARV-Therapien tatsächlich die Lebenserwartung erheblich steigern, wäre ihre Finanzierung nicht von vornherein sinnvoll. Die Aufnahme von ARV-Therapien weist bei knappen Ressourcen hohe „Opportunitätskosten“ auf, warnen die AutorInnen der zitierten Weltbankstudie: Positive Effekte müssten mit den Folgen anderer, unterlassener Investitionen und den Implikationen u.a. für andere Gesundheitsmaßnahmen abgewogen werden. Grund dafür sind nicht nur die Kosten der Medikamente. Die Therapien binden große Ressourcen an Personal und Infrastruktur, und zwar langfristig.
Für Äthiopien etwa würde ein Leistungspaket für die Realisierung der MDGs für Mutter-Kind-Gesundheit inklusive Prävention und Behandlung anderer übertragbarer Krankheiten schätzungsweise 16 US-Dollar pro Kopf kosten, mit HIV/Aids-Therapie jedoch das Doppelte – beides weit jenseits der Ressourcen des Landes. In Tansania wiederum, schätzte eine WHO-Mission, würde eine flächendeckende ARV-Behandlung beinahe die Hälfte des aktuellen Gesundheitspersonals in Anspruch nehmen. Eine Erweiterung von ARV-Therapien sollte insofern nur in Betracht gezogen werden, wenn es auch Aussicht auf mehr Mittel für „gewöhnliche“ Gesundheitsmaßnahmen gibt.
Was aber sollten Regierungen armer Länder tun, die sich weder auf zusätzliche, langfristig gesicherte externe Hilfe noch darauf verlassen können, ausreichend eigene Mittel generieren zu können? Generelle Empfehlung der AutorInnen der Weltbankstudie: Die Gesundheitslage ließe sich wahrscheinlich wirksamer und mit größerer Verteilungsgerechtigkeit verbessern, wenn ein sehr grundlegendes Leistungspaket unter Einschluss von Behandlungen bereitgestellt würde, die sich als effektiv für die Realisierung der MDGs erwiesen haben. Darüber hinaus gehende Ausgaben sollten auf Leistungen beschränkt werden, die den größten Effekt auf die ärmsten Bevölkerungsschichten haben. Als Notlösung scheint dieser Ansatz gerechtfertigt. Sofern sich der Trend der letzten Jahre fortsetzt, ist jedoch eine Art „Kannibalisierung“ von konventionellen Gesundheitsdiensten durch HIV/Aids-Programme mit unbeabsichtigten negativen Auswirkungen nicht auszuschließen.